Das Dilemma der erziehenden Gesellschaft zwischen Bequemlichkeitsliberalismus und „Konfrontativer Pädagogik“

Autor: Simon Walkenhorst
Seit einigen Jahren berät Simon Walkenhorst Schulen und Eltern im Bremer Westen. Er unterstützt Lehrerinnen und Lehrer, sowie die oft alleinerziehenden Mütter, im Umgang mit herausfordernden Jungen.

Eine Bestandsaufnahme aus der Praxis
Seit etwa zwei Jahren berate ich Schulen und Eltern im Umgang mit dominanzorientierten Kindern und Jugendlichen. Genauer gesagt, unterstütze ich vor allem Lehrerinnen und die oft alleinerziehenden Mütter im Umgang mit herausfordernden Jungen. Das pädagogische Umfeld in meiner Region orientiert sich nach meiner Erfahrung stark an reformpädagogischen Ideen und hadert mit der Vorstellung der Lehrkraft als Autorität – am liebsten möchte man, dass die Dinge „einfach funktionieren“. Die Führung zu übernehmen, Grenzverletzungen beharrlich zu konfrontieren, notfalls einseitige Maßnahmen zu ergreifen – das fällt uns schwer. Unsere Eltern haben sich ja gerade erst ziemlich erfolgreich von der schwarzen Pädagogik befreit. Das Problem der Erziehung schwer erziehbarer Kinder bleibt jedoch. Allerdings wird es selten so ausgesprochen. Der Erziehungsbegriff selbst scheint toxisch, als unzumutbare Zumutung. Man spricht lieber von „Bedarfen“, „Förderzielen“, sonderpädagogischen Entwicklungsschwerpunkten.

Der Selbstanspruch, Kindern größtmögliche Freiheit zur Entfaltung zu ermöglichen, stößt dabei aber allzu oft auf die soziale Realität, die sich im Klassenraum verdichtet. Diese Realität ist in den so genannten benachteiligten Quartieren durch einen hohen Schüleranteil mit starken Verhaltensauffälligen gekennzeichnet, als Symptome belastender Lebensumstände, die vor allem durch familiäre Haltlosigkeit und Erfahrungsarmut im Umgang mit der physischen und sozialen Welt geprägt sind. All diese kleinen Modernisierungsverlierer benötigen korrigierende Beziehungserfahrungen. So naheliegend die floskelhafte Pädagogenfrage „Was braucht das Kind?“ als Antwort auf diese weitestgehend geteilte Analyse auch erscheinen mag: Sie ist falsch. Oder anders gesagt: Sie ist wenig hilfreich. Sie fokussiert auf das Kind. Und das Kind will selten von uns annehmen „was es braucht“. Das Kind, das sich benimmt wie der Boss, braucht ein starkes Gegenüber. Einen Erwachsenen, der ihm größer, stärker und weiser gegenübersteht. Eine gute Autorität, die sich durch eine klare Linie mit Herz auszeichnet. Die Frage sollte insofern besser lauten: Was brauchen Eltern, Lehrer, Polizisten, Richter (ob männlich oder weiblich spielt keine Rolle), um diese Autorität zu verkörpern?

Als pädagogischer Quereinsteiger hatte ich vielleicht einen unverschuldeten Vorteil: Meine Selbsterfahrungen als ängstliches Kind und meine heutigen väterlichen Instinkte wurden nicht über Jahre in akademischen Hörsälen weggeschliffen. Ich hatte als einer, der in das kalte Wasser der Erziehungspraxis geworfen wurde und schnell in Seenot geriet, wenig Respekt vor gutklingenden Modebegriffen (Resilienz!) und Ganzheitlichkeitsmantras und bin der aktuellen Pädagogik (wie sie mir vor allem sprachlich entgegentritt!) nicht vollends verfallen. Meine „Kritik“ war jedoch lange Zeit nur so ein Gefühl. Ein Instinkt.

Die anstrengenden Kinder als Opfer unserer Verhältnisse zu sehen half mir zwar, diese Kinder im Alltag besser zu ertragen. Sie kollidierte aber schnell mit der Einsicht, dass die „Opfer“ selbst regelmäßig Opfer produzierten und der biographische Hintergrund dieser Kinder die Lehrkräfte und mich eher ohnmächtig zurückließ, je mehr wir über die wahrscheinlichen Ursachen Bescheid wussten. Und welches Kind orientiert sich schon an der Ohnmacht? Ich kannte den Merkspruch noch nicht, der es mir ermöglicht hätte, den scheinbaren Widerspruch zu überwinden: „Verstehen aber nicht einverstanden sein“ (Gall) und so pendelte ich – wie die Lehrer und Eltern – oft zwischen empathischer Ohnmacht und Retterimpulsen auf der einen und einer angreifenden und moralinsauren Ungeduld mit den „Unangepassten“ auf der anderen Seite.

Bei der Suche nach dem „dritten Weg“, jenseits der falschen Alternative: antiautoritäres Gewährenlassen vs. autoritärer Unterwerfung, wurde ich bei Haim Omer fündig, der mich mit seinem praxisnahen und zugleich fachlich überzeugendem präsenzpädagogischen Konzept abholte. Auch lieferte er mir eine Kritik am Zeitgeist, der Erwachsene zu Lernbegleitern degradierte und – blind für bindungstheoretische Erkenntnisse – Kinder als kleine Erwachsene behandelte. Die Texte sensibilisierten mich für die Aussagen bzgl. Kindern und Erziehungsfragen auch im privaten Umfeld. Ich habe mittlerweile den Eindruck, dass nennenswerte Teile der durchaus bürgerlichen Mittelschicht dermaßen orientierungslos und selbstvergessen Eltern spielen, dass die Katastrophen auch „in der Mitte der Gesellschaft“ nicht ausbleiben: Kleine Verhaltensoriginalitäten wachsen inmitten des materiellen Wohlstands zu entwicklungsgefährdenden Verhaltensmustern aus. Eltern fürchten sich, ihre Kinder zu führen, zu sagen, was richtig und falsch ist, können „alles verstehen“ (und akzeptieren alles!), was ihre Kinder tun, lassen ihre Kleinen über Dinge entscheiden, die sie ganz grundsätzlich in ihrer Verantwortungsfähigkeit überfordern. Ich befürchte, dass diese Instinktlosigkeit durch den Konsum der Literatur zum Thema „moderne Kindererziehung“ die fatale Situation eher noch befeuert. Und die Tatsache, dass die konservative Gegenreaktion auf die ‘68er-ideologie in Form von Plädoyers für mehr Gehorsamkeit nicht auf sich warten ließ, verschlimmert die Situation noch. Die Polarisierung auf intellektuellem Niveau spiegelt offenbar aber wenigstens realitätsgerecht wider, was wir im Umgang mit regelverletzenden und gewaltaffinen Kindern spüren, jedoch professionell überwinden lernen müssten: Angriffs- und/oder Fluchtreflexe.

Mit Beginn der Fortbildungen zum Ansatz der konfrontativen Pädagogik im Allgemeinen und der CT-Ausbildung im Besonderen, habe ich gemerkt, dass es den dritten Weg offenbar schon recht lange gab, dieser von den konkurrierenden pädagogischen Unternehmen im Feld jedoch verzerrt dargestellt wurde. Für mich galt die konfrontative Pädagogik lange Zeit selbst als rotes Tuch. Vielleicht muss man sagen: Der Titel lädt zu auch ein wenig zu Missverständnissen ein: „Konfrontation“ – das bedeutet in der Umgangssprache eben nicht nur „ernstnehmen“ oder „Präsenz zeigen“, sondern steht eher für eine Art der symmetrischen Konflikteskalation, die ja gerade verhindert werden soll. Wie dem auch sei: Der konfrontative Ansatz hinter dem Coolnesstraining ließ sich innerlich verlustfrei mit dem mir bereits vertrautem präsenzpädagogischen Konzept Haim Omers verbinden.

Die persönlich größte Entwicklungsherausforderung stellte für mich die Umsetzung der kommunikativen Statuslehre in Simulationen dar: Das bewusste Wahrnehmen und Nutzen von inneren Signalen, Gefühlen usw. – vor allem in heftigen Anforderungssituationen mit Cortisolüberdosis – das fiel mir schwer. Aber gerade hier – auf dem schmalen Grat zwischen Herausforderung und Überforderungsgefühlen – habe ich viel mitgenommen. Auch weil es hier nicht zuallererst um einen intellektuellen Erkenntnisgewinn ging, sondern um das Lernen aus einer lebendigen Erfahrung. Der wohl biographisch begründete und bisher ziemlich erfolgreiche Versuch sich in bedrohlichen Situationen zu verstecken, der Wunsch, Dinge nicht an sich ranzulassen: All das funktionierte nicht mehr, als die Kollegen von F.I.S.T. mir zeigten, dass die bisher erlernten Verhaltensmuster im Biotop gewaltaffiner Jugendlicher nichts zählten, dass das Vertrauen auf ein Mindestmaß an Zivilisiertheit des Gegenübers nur solange gerechtfertigt ist, bis dieses Vertrauen sich als Illusion vor der Realität blamiert. Insbesondere dieser Block des „Körperthrills“ hat mich ziemlich aus den Angeln gehoben und von meinen bisherigen Überzeugungen entfremdet: Wieso habe ich bei den ersten Grenzüberschreitungen mir gegenüber im „Spiel“ so spät und halbherzig gewehrt? Vor der kritischen Selbstreflexion stand jedoch die innere Empörung gegenüber den Zumutungen, die dieser Ausbildungsabschnitt mit sich brachte. Erst allmählich begriff ich, dass ich zu keiner Zeit gezwungen war, mich zu stellen, mitzumachen… Ich bin froh es ausprobiert zu haben.

Gleichzeitig frage ich mich, wie lange es solche „hyperrealistischen“ Simulationen in Fortbildungen geben wird. In einer Zeit, in der die Empörung über „Mikroaggressionen“ und das Recht auf „safe spaces“ zum sprachlichen Inventar der politisch korrekten Zunft gehört. Wie aus der Zeit gefallen wirkte der Block auf mich, in einer Gegenwart, in der es zwar unzählige Fortbildungen zu den Fragen der Inklusion gibt und auch nicht mit Tipps zur „systemischen Elternarbeit“ gespart wird, die Tatsache der Gewalt in Schulen jedoch nicht zum Selbstbild einer individualisierten Gesellschaft passt, die das stammesgeschichtliche Erbe des Menschen gern verleugnen würde und in pädagogischen Gesprächen noch zu oft behauptet wird: „Gewalt ist keine Lösung!“. Ist sie eben doch. Wenn wir das nicht hinnehmen wollen, müssen wir uns als Einzelne, als Team, als Eltern, als Institution, als Gemeinde entgegenstellen und gemeinsame Regeln durchsetzen.
Als ich etwa 8 Jahre alt war, habe ich einen „bully“ konfrontiert, um einem schikanierten Mitschüler zu helfen. Die Erfahrung als „Retter“ zum Opfer wochenlanger nicht-konfrontierter Drangsalierungen zu werden, hat mich, so vermute ich, stärker geprägt, als ich mir eingestehen will. Ich versuche diese Erfahrung als Sprungbrett für meine Beraterrolle zu nutzen. Mir fällt es dadurch vielleicht etwas leichter, mich immer wieder innerlich auf den Opferschutz zu verpflichten, im Umgang mit schweren Grenzverletzern die Opferperspektive mitlaufen zu lassen und diese als Maßstab für gelungene Prozesse zu nutzen.