Nicht besser, aber auch nicht schlechter: Anti-Aggressivitäts-Training und Legalbewährung

Die Kernaussage: Die folgende Studie vergleicht infaftierte AAT-behandelte Gewalttäter der Jugendanstalt Hameln mit inhaftierten Gewalttätern der Jugendanstalt Hameln, die ebenfalls behandelt wurden: durch die Sozialtherapie, den Gesprächskreis Tötungsdelikte sowie die Abteilung für Soziales Training. Beide hochaggressiven Untersuchungsgruppen kommen zu einer sehr erfreulichen Rückfallquote, die bei nur ca. einem Drittel der behandelten Gewalttäter liegt.  Diese identischen Gewaltrückfallraten der Sozialtherapie, des Gesprächskreises Tötungsdelikte und dem Anti-Aggressivitäts-Training  lassen, so der Forschungsleiter Prof.Dr.Ohlemacher, (…) Deutungen zu: sie könnte z.B. sowohl schlicht die beste derzeit unter den Bedingungen des Jugendstrafvollzuges erreichbare sein oder auch auf einen allgemein wirksamen „Hameln-Effekt“ (eben den einer Anstalt mit relativ vielen Angeboten zur Therapie und Resozialisierung Inhaftierter) zurückzuführen sein.

Anti-Aggressivitäts-Training und Legalbewährung

Thomas Ohlemacher, Dennis Sögding, Theresia Höynck, Nicole Ethé und Götz Welte[1]

Zusammenfassung

Im folgenden werden die Ergebnisse einer Wirkungs-Evaluation des Anti-Aggressivitäts-Trainings (AAT) der Jugendanstalt Hameln aus den Jahren 1987-1999 unter dem Gesichtspunkt der Legalbewährung beschrieben. Eine Gruppe von 73 Personen wird vorgestellt, die seit 1986 dieses Training in Hameln durchlaufen haben und für die es möglich war, eindeutige Daten zu Haftverlauf und Legalbewährung zu ermitteln. Im weiteren Verlauf des Beitrags wird die Zusammenstellung einer Kontrollgruppe von „AAT-Untrainierten“ beschrieben, die etwa zur selben Zeit in Hameln wegen ähnlicher Delikte einsaßen. Auf diese Weise sollen die Rückfalldaten der Gruppe der Trainierten mit einer möglichst ähnlichen Kontrollgruppe von AAT-Untrainierten verglichen werden. Wir kommen damit einer oftmals erhobenen Forderung zur kontrollierten Evaluation des Anti-Aggressivitäts-Trainings nach (vgl. stellvertretend Walter 1998: 27). Die vorliegende Untersuchung bleibt dabei beschränkt auf das relativ enge Kriterium der Legalbewährung  – über alle anderen potentiellen Qualitäts- und Bewertungskriterien kann damit keine Aussage getroffen werden. Als Ergebnis lassen sich beinahe identische Werte für AAT-Trainierte und AAT-Untrainierte festhalten, was Rückfallraten, -häufigkeiten und -geschwindigkeit angeht. Lediglich bei der Rückfallintensität stellt sich die Gruppe der Trainierten etwas günstiger dar – jedoch auch dieser Befund befindet sich noch unterhalb der Grenze zur statistischen Signifikanz.

Das Anti-Aggressivitäts-Training

Unter verschiedensten Bezeichnungen ist das Anti-Aggressivitäts-Training nunmehr seit über fünfzehn Jahren in der deutschen sozialpädagogischen Praxis vertreten. Absicht all dieser Programme ist es, die Gewaltneigung und damit auch die Gewalthandlungen von Personen (zumeist männlichen Jugendlichen und Heranwachsenden) zu verringern, die bereits durch mehrfache oder besonders heftige Gewalttaten auffällig geworden sind. Bevorzugter Ort für Trainings dieser Art sind stationäre Einrichtungen wie Jugendstrafanstalten und Heime. Aber auch andere Einrichtungen der Jugendhilfe und der Justiz (wie z.B. ambulante Maßnahmen im Schnittstellenbereich KJHG/JGG, Jugendgerichtshilfe, Bewährungshilfe, Jugend- und Kulturzentren) und auch Schulen bieten ambulante Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings an (vgl. Weidner, Kilb und Kreft 1997; Weidner 1997).

Das Anti-Aggressivitäts-Training in der Jugendanstalt Hameln: Vorgehensweisen und Variationen

Das AAT in der Jugendanstalt Hameln, das Gegenstand dieser Untersuchung ist, wurde dort Mitte der achtziger Jahre erstmals durchgeführt und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Im Kern ist der Aufbau des Trainings über die Jahre der Weiterentwicklung hin unverändert geblieben: In sechsmonatigen Intensivkursen werden jeweils sechs bis acht „gewaltaffine“ Jugendliche in einem Training für ein gewaltfreieres Verhalten geschult. In den bis zu zwei mal wöchentlich stattfindenden Gruppengesprächen des  AAT steht das inhaftierungsrelevante Delikt der Jugendlichen, aber auch u.U. das Gewaltverhalten in der Anstalt im Vordergrund. In diesen Gesprächen wird versucht, bei den Tätern Schuld und Scham für ihre eigenen Taten bzw. Mitgefühl für ihre Opfer zu wecken. Die gewaltbereiten Jugendlichen sollen dabei insbesondere lernen, trotz vorhandener körperlicher Stärke auf Gewaltanwendung zu verzichten („Zurückhaltung ist Stärke – Gewalt ist Schwäche“). Behandlungsbedürftigkeit, -bereitschaft und -fähigkeit der Jugendlichen sind die wichtigsten Voraussetzungen für die Teilnahme am AAT-Programm. Ausschlusskriterien für eine Teilnahme sind: Drogenabhängigkeit, erhebliche intellektuelle Defizite und extreme Gruppenunfähigkeit (Weiß 1991: 278). Insgesamt soll aber bereits an dieser Stelle angemerkt werden, dass das Aufnahmeverfahren in allen Phasen des AAT für uns nicht völlig transparent wurde. In der Auswertung der Daten wird zwischen vier Phasen dieser Weiterentwicklung unterschieden, in denen das AAT unter jeweils verschiedener Leitung im Hinblick auf einzelne Gestaltungselemente variiert wurde: Wir unterscheiden die sogenannte Erprobungsphase (1987-1989), in der auf Basis von sogenannten Geschlechtsrollen-Seminaren das Konzept des AAT entwickelt und erstmals erprobt wurde; die Weiterentwicklungsphase (1989-1991) in welcher der gesprächsorientiertes Teil insbesondere durch ein intensives Sportprogramm ergänzt wurde; die Konzentrationsphase (1992-1995), in der das sportpädagogische Programm reduziert und die Tataufarbeitung stärker im Mittelpunkt stand sowie die Diversifikationsphase (1995-2000), in welcher das Training um eine Reihe von Übungseinheiten zu sozialpraktischen Fähigkeiten (sog. Attraktivitätstraining) erweitert wurde

Anti-Aggressivitäts-Training und Legalbewährung

Die folgenden Aussagen beziehen sich auf eine Gruppe von 73 Gefangenen der Jugendstrafanstalt Hameln, die seit 1986 das AAT durchlaufen haben. Wir sind bei unseren Analysen zunächst von der vollständigen Gruppe von 97 ehemaligen oder noch aktuellen Gefangenen der JA Hameln ausgegangen, die als erste das Training absolviert haben (Erstellung der Liste der Trainierten: Anfang 1999). Das Interesse der Untersuchung, eine valide Rückfalluntersuchung auf Basis von Auszügen aus dem Bundeszentralregister (BZR) durchzuführen, führte jedoch im Verlauf des Projekts beinahe zwangsläufig zu einer Verkleinerung der tatsächlichen Untersuchungsgruppe. Die Gruppe reduzierte sich zunächst um 11 Personen, die zum Zeitpunkt der Rückfallerhebung (der Erstellung der Auszüge aus dem Bundeszentralregister; Stichtag: 17.1.2000) noch inhaftiert oder verstorben waren oder die aus der Bundesrepublik ausgewiesen wurden. So verblieben 86 Personen, über deren Legalbewährung wir per BZR-Auszug erhobene Informationen weiterführend analysieren konnten. Von diesen 86 Personen sind jedoch nochmals 11 weitere Teilnehmer des AAT aufgrund von unklaren Daten zum Haftantritt und Haftentlassung von der Analyse zurückgestellt worden. Die verbleibende Gruppe hat sich nochmals um zwei weitere Personen verkleinert, die – wie wir zu einem relativ späten Zeitpunkt des Projektes erfuhren – das Training abgebrochen hatten bzw. von einer weiteren Teilnahme ausgeschlossen worden waren.
Bei den 73 ehemals Inhaftierten handelt es sich um 59 Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit und um 14 mit anderen Staatsangehörigkeiten. In der Gruppe der Deutschen befindet sich ein Aussiedler aus Osteuropa, unter den Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit finden sich (als zahlenmäßig stärkste Gruppen) sieben Türken und drei Jugoslawen. Bei Haftantritt war der jüngste Teilnehmer 16,5 Jahre alt, der älteste 24,7 Jahre – das Durchschnittsalter betrug 19,8 Jahre (Median: 19,7). Die Gruppe der Trainierten ist laut der angeforderten BZR-Auszüge (Stichtag 17.1.2000) eine von den Vorstrafen her betrachtet hochbelastete Gruppe. Bereits vor ihrer Einweisungsstrafe in die JA Hameln wiesen alle Untersuchten erhebliche Eintragungen in das BZR bzw. das Erziehungsregister auf. Annähernd 40 % von ihnen hatten bereits fünf und mehr Eintragungen im Bundeszentralregister, 6 % von ihnen verfügten schon über 10 und mehr Eintragungen. 38,4 % hatten bereits eine Jugendhaftstrafe zur Bewährung erhalten, 17,8 % waren sogar zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden.
Die Intention des AAT ist es, Gewalttäter für die Zeit nach der Haft zu trainieren. Dementsprechend sind bei der Untersuchungsgruppe die schwersten Delikte der Einweisungsstrafe für Hameln (und damit die AAT-relevanten Delikte) Gewaltdelikte (vgl. Abbildung 1): Ungefähr 15 % der trainierten Personen sind wegen eines Mord- oder Totschlagsdelikts (incl. versuchter Taten) in Hameln inhaftiert, über 40 % wurden wegen eines Körperverletzungsdelikts eingewiesen (ca. die Hälfte hiervon wegen einer gefährlichen Körperverletzung). Raubdelikte (incl. räuberische Erpressung) sind bei annähernd 40 % der Trainierten der Inhaftierungsgrund (bei deutlich mehr als einem Drittel dieser Gruppe handelte es sich dabei um schweren Raub).

Abbildung 1:
Schwerstes Delikt zur Einweisung in Hameln, Trainingsteilnehmer
(„Teilnahmedelikt AAT“, Angaben in %, N=73)
Der früheste Haftantritt eines Trainierten ist mit dem 02.08.1982 datiert, der letzte der bereits entlassenen Trainierten wurde am 08.06.1997 inhaftiert. Der erste der trainierten Jugendlichen wurde am 17.07.1987 entlassen, das letzte Entlassungsdatum der von uns berücksichtigen Personen war der 2.12.1999. Die Länge der Aufenthalts außerhalb der Haftanstalt ist natürlich wesentlich für die Gelegenheit zum Rückfall. Der zuletzt genannte Inhaftierte wird bis zur Stichtagserhebung am 17.1.2000 nur wenig Chancen haben, rückfällig zu werden (selbst wenn, dann ist noch nicht mit einem Urteil oder einer Eintragung im BZR zu rechnen), wohingegen bspw. ein bereits vor dreizehn Jahren entlassener Häftling, so unser „Extremfall“, eine völlig andere „Bewährungsprobe“ zu bestehen hat. Gleichwohl: Rückfallraten erhöhen sich nicht linear. Die Literatur belegt, dass der übergroße Teil der Rückfälle bereits im ersten Jahr stattfindet (vgl. verschiedene Beiträge in Kerner, Dolde und Mey 1996). Aus diesem Grunde bietet sich an, die untersuchten Personen im weiteren Verlauf der Analyse nach ihren bereits in Freiheit verbrachten Jahren zu differenzieren.

Abbildung 2:
Jahr nach der Entlassung, Trainingsteilnehmer
(N=73, Angaben in Prozent)
In unserem Datensatz befinden sich 2,7 % an ehemals Inhaftierten, die noch kein ganzes Jahr aus der Haft in Hameln (während der das AAT stattfand) entlassen sind, für 15,1 % lag der Entlassungstermin aus Hameln zwischen einem und zwei Jahren zurück (sie befinden sich also im zweiten Jahr nach der Entlassung), für weitere 9,6 % sind es zwischen zwei und drei Jahren (drittes Jahr). Anteilsmäßige Schwerpunkte liegen nochmals bei denjenigen, die sich im zehnten Jahr nach der Entlassung aus Hameln (17,8 %) und denjenigen, die sich im elften Jahr (11,0 %) befinden. Im (maximal) dreizehnten Jahr nach der Entlassung wurden 3 Personen (4,1 %) erfasst. Anders betrachtet: 64,4 % der untersuchten Personen sind bereits seit fünf Jahren und mehr aus der AAT-relevanten Haft in Hameln entlassen, für 20,6 % liegt dieser Zeitpunkt bereits über zehn Jahre zurück (vgl. Abbildung 2). Diese Differenzierung wird im weiteren Verlauf der Analysen von besonderer Bedeutung sein.
Rückfall nach der Haftzeit: Erste Befunde und Hypothesen
Der allgemeine Rückfall nach einer Jugendstrafe ist recht hoch (vgl. etwa die Übersicht bei Greve und Hosser 1998). Dies bestätigen auch unsere Daten:  Bei 63 % der untersuchten Personen konnten wir einen strafrechtlich relevanten und als solchen gerichtlich belangten Rückfall (gleich welcher Deliktart, im weiteren: allgemeiner Rückfall) feststellen (vgl. Abbildung 3). Untersucht man die Rückfallhäufigkeit, so ergeben sich folgende Befunde: 16,4 % hatten nach ihrer Haftzeit in Hameln einen Eintrag, bei 26,1 % fanden sich zwischen zwei und vier Einträgen, fünf und mehr Einträge hatten 20,5 %, mehr als zehn Einträge fanden sich für 5,5 %. Einen Gewaltrückfall (als Teilmenge der allgemeinen Rückfälle) konnten wir bei 37 % der untersuchten Personen feststellen[2]. 19,2 % hatten einen weiteren Eintrag wegen eines Gewaltdelikts, für 16,4 % fanden sich zwischen zwei und vier Einträgen, fünf und mehr Einträge hatten 1,4 %.

Abbildung 3:
Anzahl der Eintragungen im BZR, Trainierte  (N=73, Angaben in Prozent)
Identifiziert man den Zeitpunkt des ersten Gewaltrückfalls (die sogenannte Rückfallgeschwindigkeit), so lässt sich zeigen, dass sich über die Hälfte der Gewaltrückfälle im ersten Jahr nach der Haftentlassung ereignen (55,6 %). Rückfälle unabhängig vom Delikt (allg. Rückfall) ereignen sich sogar noch häufiger im ersten Jahr: Hier liegt der Anteil bei 63,0 %. Die Anteile der übrigen Jahre an den Rückfällen sind etwa identisch – sie schwanken um die 10 % – oder bleiben deutlich darunter. Auffällig sind das dritte Jahr bei den allgemeinen Rückfällen (der Anteil beträgt hier annähernd 20 %) und das vierte Jahr bei den Gewaltrückfällen (ca. 15 %). Abbildung 4 fasst die Ergebnisse in einer sogenannten „Überlebens“-Analyse zusammen und macht die zuvor dargestellten Befunde optisch deutlich (vgl. einschlägig Lösel/Pomplun 1998: 123f., Dünkel/Geng 1993 sowie weiterführend zur Methodik Diekmann 1986, Smith/Akers 1993, Herrmann 1998). An dieser Stelle sei nochmals darauf verwiesen, dass die in die Analyse einbezogene Gruppe eine hohe Binnenvarianz in Bezug auf die zeitliche Entfernung zur AAT-relevanten Haftzeit aufweist (vgl. Abb. 2). Schaut man in einem weiteren Schritt auf die Rückfallintensität[3], so kann man bei den rückfälligen Gewalttätern eine mehrheitliche „Abschwächung“ feststellen: 55,6 % verüben „schwächere“ Gewaltdelikte, 14,8 % bleibt ohne Deliktveränderung; jedoch: 29,6 % verüben „härtere“ Gewaltdelikte.

Abbildung 4:
Survival-Kurven Rückfall allgemein und Gewaltrückfall, Trainierte
(N=73, absolute Zahlen)
Die Recherche und Untersuchung einer Kontrollgruppe
Im Mai 2000 wurde begonnen, einen Datensatz zu erstellen, aus dem wir „statistische Zwillinge“ für die Trainierten gewinnen konnten. Hierzu haben wir in einem ersten Schritt die Karteikarten der Gefangenenjahrgänge 1987-1999 (sog. „Entlassungskartei“ mit mehreren tausenden Karten) der JA Hameln herangezogen. Wir waren dabei auf der Suche nach Inhaftierten, die im angegebenen Zeitraum wegen eines Gewaltdelikts in Hameln eingewiesen worden waren, mindestens 6 Monate in Hameln einsaßen und nicht abgeschoben worden waren.
Hieraus ergaben sich 816 potenzielle Zwillinge. Für diesen Personenkreis folgte zur weiteren Parallelisierung mit den Trainierten die zusätzliche Erfassung der Variablen Nationalität, Haftgrund, Strafmaß des Urteils, Datum des Haftantritts und Datum der Haftentlassung – dies als Grundlage zur Ermittlung tatsächlicher Zwillinge. Hierdurch sollte sichergestellt werden, dass wir die entscheidenden Variablen (Haftanlaß und Aufenthalt/Sozialisation in Hameln im selben Zeitraum) in jedem Falle für Trainierte und Untrainierte in Sinne von „passenden Paaren“ („matched pairs“) parallelisieren konnten. Der Begriff „Untrainierte“ bedeutet dabei in diesem Zusammenhang lediglich, dass kein AAT-Training erfolgt ist. Selbstverständlich sind in Hameln – dem Gesetzesauftrag folgend – andere, z.T. auch deliktspezifische Maßnahmen (Sozialtherapie, Gesprächskreis ‚Tötungsdelikte‘) zur Behandlung der Straftäter durchgeführt worden. In Bezug auf diesen Aspekt ist die Kontrollgruppe unsystematisch zusammengesetzt.
Aus dieser Gruppe der potenziellen Zwillinge wurde auf Basis der vorliegenden Daten im nächsten Schritt die Untergruppe der 73 tatsächlichen Zwillinge als Kontrollgruppe ausgewählt. Dies geschah durch eine maximale Angleichung der Ausprägungen der oben genannten fünf Variablen auf der Individual­ebene zwischen AAT-Trainiertem und jeweiligem auszuwählenden „Zwilling“. Alleine dieser Optimierungsprozess mit fünf Variablen (plus der vorhergegangenen Einschränkung, dass es sich um Inhaftierte mit Gewaltdelikten und einer mindestens sechsmonatigen Aufenthaltsdauer in Hameln handeln musste) verkleinerte den Kreis der potenziellen Zwillinge sehr rasch. Für die ausgewählten 73 Inhaftierten (im weiteren „Untrainierte“ bzw. „Kontrollgruppe“ genannt) erfolgten dann im Spätsommer 2000 wiederum BZR-Anfragen – diese wurden jedoch aus Gründen des direkten Vergleichs mit der Gruppe der Trainierten nur bis zum Stichtag 17.01.2000 (vgl. oben) ausgewertet.

Abbildung 5:
Schwerstes Gewaltdelikt zur Einweisung in Hameln, AAT-Trainingsteilnehmer und Kontrollgruppe
(Angaben in %, jeweils N=73)

Die Gruppe der von uns selektierten AAT-Untrainierten erweist sich auch im weiteren als eine recht gute Wahl, was ihre „Zwillingsqualitäten“ angeht. Die schwersten Delikte der Einweisungsstrafe für Hameln (und damit AAT-relevanten) Gewaltdelikte stimmen mit der Gruppe der AAT-Trainierten weitgehend überein (vgl. Abbildung 5). Vor ihrer Einweisungsstrafe hatten bereits rund 38 % der AAT-Untrainierten fünf und mehr Eintragungen im Bundeszentralregister, rund 4 % von ihnen verfügten schon über 10 und mehr Eintragungen. 24,7 % hatten bereits eine Jugendhaftstrafe zur Bewährung erhalten, 34,3 % waren sogar zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt worden. Was ihre Erfahrung mit einer Haftstrafe angeht, sind die AAT-Untrainierten damit sogar etwas stärker belastet als die Trainingsteilnehmer (vgl. hierzu und im folgenden Tabelle 1). Das Alter beim Erstdelikt (erster Eintrag im BZR) ist für AAT-Trainierte und AAT-Untrainierte – wie auch das Einweisungsalter, die Strafdauer und der effektive Aufenthalt – fast deckungsgleich.

Tabelle 1: Gruppe der AAT-Trainierten und AAT-Untrainierte im Vergleich

AAT-Trainierte
AAT-Untrainierte
N
73
73
Ausländeranteil (in %)
19,2
15,1
Alter bei Erstdelikt (Mittelwert)
15,2
15,4
Zahl der Vorstrafen (Mittelwert)
5,2
4,6
Anteil Haft-strafe vor Einweisung
Mit Bewährung (in %)
38,4
24,7
Ohne Bewährung (in %)
17,8
34,3
Einweisungsalter (Mittelwert)
19,8
19,7
Strafdauer
(in Jahren)
Mittelwert
3,2
3,2
Median
2,7
3,0
eff. Aufenthalt
in Hameln
Mittelwert
2,5
2,1
Median
1,9
2,0

 

Der Anteil von Ausländern ist in der Kontrollgruppe mit 15,1 % allerdings geringer als in der Gruppe der AAT-Trainierten (vgl. ebenfalls Tabelle 1): Neben 62 Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft finden sich sechs Türken, zwei Libanesen, zwei Spanier und ein Jugoslawe. Der jüngste AAT-Untrainierte war bei Haftantritt knapp 16 Jahre alt, der Älteste zählte 23,3 Jahre (Durchschnitt: 19,7 Jahre). Der früheste Haftantritt ist der 09.05.1984, der letzte erfolgte am 26.11.1997. Der erste Untrainierte wurde am 30.04.1987 entlassen, das letzte Entlassungsdatum war der 23.04.1999. Einer der Entlassenen (1,4 %) war noch kein Jahr aus der JA Hameln entlassen, für 13,7 % lag der Entlassungstermin aus Hameln zwischen einem und zwei Jahren zurück, 6,8 % befinden sich „im dritten Jahr“. Weitere Schwerpunkte gibt es im zehnten Jahr (16,4 %) und im elften Jahr (8,2 %),  im (maximal) dreizehnten Jahr befinden sich 5,5 % der AAT-Untrainierten. 65,8 % sind bereits seit fünf Jahren und mehr aus der Haft entlassen, für 21,9 % liegt dieser Zeitpunkt bereits über zehn Jahre zurück. All dies verläuft äußerst „parallel“ zu den Trainierten – wie Abbildung 6 deutlich macht.

Abbildung 6:
Jahr nach der Entlassung, Trainingsteilnehmer und Kontrollgruppe
(jeweils N=73, Angaben in Prozent)

AAT-Trainierte und AAT-Untrainierte: Gewaltrückfall im Vergleich

Die Rückfallrate ist in den beiden Gruppen fast identisch: Wir konnten bei 34,2 % der untrainierten Personen mindestens einen Gewaltrückfall feststellen. Die analoge Rückfallrate bei den Trainierten (37 %) weist hierzu keinen signifikanten Unterschied auf (z=0.35, p>0.05). Auch die Rückfallhäufigkeit ist ähnlich hoch wie bei den Trainierten: 15,1 % hatten einen Eintrag, 17,8 % wiesen zwischen zwei und vier Einträgen auf, fünf und mehr Einträge hatten 1,4 % (c2=2,96, df=6, p>0.05). Auch bei der Zahl der Rückfälle ist also eine weitgehende Parallelität vorzufinden (vgl. Abbildung 7).

Abbildung 7:
Zahl der Gewaltrückfälle, BZR-Eintragungen, AAT-Trainierte und Kontrollgruppe
(jeweils N=73, Angaben in Prozent)
Die Rückfallgeschwindigkeit ist – wie Abbildung 8 zeigt – ebenfalls fast identisch. Der Gesamtrückfall (d.h. alle Delikte, die zu einem BZR-Eintrag nach der Haftzeit führten) ist ebenfalls für AAT-Trainierte und AAT-Untrainierte fast deckungsgleich (hier ohne Abbildung).

Abbildung 8:
Survival-Kurven Gewaltrückfall, AAT-Trainierte und  AAT-Untrainierte
(jeweils N=73, absolute Zahlen)
Mit Blick auf die Rückfallintensität (Gewaltdelikte) erweist sich die Gruppe der AAT-Untrainierten als „ungünstiger“: 56,0 % der Gewaltrückfälligen weisen ein „stärkeres“ Rückfalldelikt auf, 32,0 % ein „schwächeres“, bei 12,0 % ist die Gewaltintensität ohne Veränderung. Bei den Trainierten zeigte sich hier ein günstigeres Bild: 55,6 wiesen schwächere Delikte auf, 14,8 % waren unverändert in ihrer Deliktschwere, nur 29,6 % wiesen bei den Trainierten einen stärkeren Rückfall auf (vgl. oben). Diese Differenz ist jedoch nicht signifikant (c2(Pearson)=3,84, df=2, p>0.05; c2(Mantel-Haenzsel)=3,66, df=1, p>0.05). Die Differenz zwischen den beiden Prozentraten für eine Deliquenzabschwächung ist bezogen auf die Gesamtheit der jeweils Gewaltrückfälligen (wenn auch äußerst knapp) ebenfalls nicht signifikant (z=1.99, p>0.05).
Vergleicht man nun die Zahlen und Kennwerte über die verschiedenen Phasen des AAT hinweg, so zeigen sich auch im Detail keine dramatischen Unterschiede zwischen den einzelnen Phasen, was die Zusammensetzung der Trainierten und Untrainierten sowie deren Rückfallhäufigkeiten im Vergleich angeht (vgl. Tabelle 2). Auch die äußerst großen Unterschiede in der Rückfallrate zwischen den Trainierten und den Untrainierten der 4. Phase (47.1 % Rückfall für Trainierte; 29,4 % für Untrainierte) sind zwar bemerkenswert, aber aufgrund der geringen Zahlen in den jeweiligen Subgruppen ebenfalls nicht signifikant (z=1.1, p>0.05).

Tabelle 2:
Rückfallraten sowie Zusammensetzung der Gruppen der AAT-Trainierten und der Kontrollgruppe bezogen auf vier Phasen des AAT in Hameln (Kontrollgruppe dunkel unterlegt)

Erprobungs-
phase
(1987-89)
Weiterentwicklungsphase
(1989-91)
Konzentra-tionsphase
(1992-95)
Diversifika-
tionsphase
(1995-2000)
N
18
18
16
16
22
22
17
17
Gewaltrückfall (in % (n))
38,9 (7)
38,9
(7)
37,5 (6)
43,7
(7)
27,3 (6)
27,3
(6)
47,1 (8)
29,4
(5)
Ausländeranteil (in %)
16,7
11,1
6,3
6,3
18,2
13,6
35,3
29,4
Alter bei Erstdelikt (Mittelwert)
15,3
14,4
15,1
15,9
15,5
15,6
15,0
14,7
Zahl der Vorstrafen (Mittelwert)
4,3
4,1
4,9
4,8
6,0
4,6
5,5
5,1
Anteil Haft-strafe vor Einweisung
Mit Bewährung
50,0
33,3
18,8
25,0
50,0
18,2
29,4
23,5
Ohne Bewährung
11,1
22,2
12,5
31,3
22,7
31,8
23,5
47,1
Einweisungsalter (Mittelwert)
20,0
19,4
20,1
20,4
19,8
19,8
19,3
18,4
Strafdauer
(in Jahren)
Mittelwert
3,5
3,6
2,6
3,2
3,5
3,3
3,3
2,7
Median
3,0
3,2
2,5
3,7
2,5
3,2
3,5
2,6
Eff. Aufenthalt
in Hameln
Mittelwert
2,4
2,2
2,0
2,2
2,8
2,0
2,5
1,8
Median
1,9
1,8
1,8
2,0
1,9
2,0
2,2
1,9

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wurde die Legalbewährung einer Gruppe von 73 Teilnehmern des Anti-Aggressivitäts-Trainings (AAT) in der Jugendanstalt Hameln aus den Jahren 1987-1999 untersucht. Um den möglichen Effekt des AAT zu erfassen, wurde eine Kontrollgruppe von 73 ehemals in Hameln Inhaftierten ausgewählt, die das Training nicht durchlaufen haben. Die beiden Gruppen waren parallelisiert, was ihre Haftgründe, das Strafmaß und den tatsächlichen Zeitraum ihres Aufenthalts in Hameln angeht. Es ist davon auszugehen, dass sich unter den AAT-Untrainierten zahlreiche Personen befinden, die in Hameln andere Behandlungsformen absolviert haben. Hierzu gehören auch deliktspezifische Maßnahmen wie die Sozialtherapie oder der sogenannte „Gesprächskreis Tötungsdelikte“. In dieser Hinsicht ist keine systematische Auswahl der Kontrollgruppe erfolgt.
Vergleicht man die jeweiligen Rückfallraten, -häu­figkeiten und -geschwindigkeiten von AAT-Trainierten und AAT-Untrainierten, so erweisen sich diese als nahezu identisch. Lediglich die Rückfallintensität ist bei den AAT-Trainierten geringer. Diese Differenz befindet sich jedoch immer noch unterhalb der Grenze zur statistischen Signifikanz. Insbesondere die aufgefundene Differenz in der Intensität des Rückfalls bedarf somit weiterer Evaluationsstudien, die auf einer größeren Zahl von AAT-Trainierten und AAT-Untrainierten beruhen. In den übrigen Facetten des Rückfalls (Rate, Häufigkeit und Geschwindigkeit) lassen sich je­doch keinerlei Unterschiede zwischen den AAT-Trainierten und AAT-Untrainierten feststellen. Die positiven Effekte des AAT liegen somit nicht über dem Durchschnitt anderer Maßnahmen in Hameln. Diese identische Gewaltrückfallrate (ca. ein Drittel der inhaftierten Gewalttäter) lässt allerdings durchaus verschiedene Deutungen zu: sie könnte z.B. sowohl schlicht die beste derzeit unter den Bedingungen des Jugendstrafvollzuges erreichbare sein oder auch auf einen allgemein wirksamen „Hameln-Effekt“ (eben den einer Anstalt mit relativ vielen Angeboten zur Therapie und Resozialisierung Inhaftierter) zurückzuführen sein – und damit nicht „gegen“ das AAT, sondern primär „für“ Hameln sprechen.
Die vorgelegte Studie hat den Rahmen einer „Ex-Post“-Analyse der Legalbewährung so weit wie möglich ausgeschöpft. Argumente gegen eine ausreichende Parallelisierung der Zwillinge lassen sich natürlich auch bei größtem Aufwand nicht abschließend entkräften. So lässt sich z.B. die Frage aufwerfen, ob denn die Veränderungsbereitschaft im Bezug auf das eigene Verhalten überhaupt ausreichend parallelisieren lässt (Teilnahmebereitschaft am AAT könnte Veränderungsbereitschaft signalisieren, mögliche Effekte des AAT hätten alleine darauf zurückgeführt werden können).  Hieraus lässt sich unseres Erachtens nur ein Schluss ziehen: Will man eine methodisch bestmöglich abgesicherte Evaluation des „Nettoeffekts“ einer Maßnahme erreichen (wie auch immer der Effekt definiert und die Maßnahme gestaltet sein mag), so bedarf es einer zufallsgesteuerten Zuweisung von Inhaftierten zu der Gruppe der Trainingsteilnehmer und Nicht-Teilnehmer – und damit der Planung der Evaluation, bevor eine Maßnahme beginnt.

Literaturverzeichnis

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Kerner, Hans-Jürgen, Gabriele Dolde und Hans-Georg Mey, 1996 (Hg.): Jugendstrafvollzug und Bewährung. Analysen zum Vollzugsverlauf und zur Rückfallentwicklung. Mönchengladbach: Forum Verlag Godesberg.
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Weidner, Jens, Rainer Kilb und Dieter Kreft (Hg.), 1997: Gewalt im Griff. Neue Formen des Anti-Aggressivitäts-Trainings. Weinheim/Basel: Beltz.
Weidner, Jens 1997: Jugendgewalt in Hamburg und wie die soziale Arbeit darauf reagieren kann. standpunkt sozial 2/1997: 1-6.
Weiß, Markus, 1991: Zehn Jahre sozialtherapeutische Arbeit mit jugendlichen und heranwachsenden Straftätern im Rudolf-Sieverts-Haus der Jugendanstalt Hameln – Ein Erfahrungsbericht. Zeitschrift für Strafvollzug und Straffälligenhilfe 40: 277-282.

[1] Der folgende Text ist eine Kurzfassung von Ohlemacher, Thomas, Dennis Sögding, Theresia Höynck, Nicole Ethé und Götz Welte (2001), Anti-Aggressivitätstraining und Legalbewährung: Versuch einer Evaluation. S. 345-386 in: Mechthild Bereswill/ Werner Greve (Hg.) Forschungsthema Strafvollzug. Interdisziplinäre Beiträge zur kriminologischen Forschung, Bd. 21. Band Baden-Baden: Nomos. Wir danken dem Nomos-Verlag für die Genehmigung zum Abdruck dieser Kurzfassung. Zudem wurde der Beitrag veröffentlicht als Forschungsbericht des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen Nr. 83. Hannover: KFN. Hier finden sich ausführlichere inhaltliche und methodische Darstellungen (insb. eine breite Darlegung der Hamelner Historie, des Konzepts und bisheriger Evaluationen des AAT).
[2] Die summarische Ergänzung des prozentualen Anteile der Nicht-Rückfälligen Gewalt und der allgemein Nicht-Rückfälligen auf 100 ist Zufall.
[3] Die Rückfallintensität wurde durch die für den jeweils erfüllten Straftatbestand gesetzliche Höchststrafe operationalisiert.